Hurra, dank Bundespräsident weiß ich jetzt: Ich bin glückssüchtig! Genauer: Ich bin Teil einer glückssüchtigen Gesellschaft.
Ich kann es nämlich wirklich nur schwer ertragen, dass es wieder deutsche Gefallene gibt.
Den Bruder meiner Mutter konnte ich nie Onkel nennen, weil er 16 Jahre vor meiner Geburt gestorben ist. Er war Soldat. Er wurde getötet. Er war ein deutscher Gefallener.
Ich hätte ihn lieber kennengelernt als nur seine Fotos zu betrachten.
Ich wäre lieber zu der Bestattung eines 80-jährigen Onkels gefahren als über die Umbettung eines 22-jährigen in Nordwestrussland zu lesen.
Dank meiner Erziehung,
die zum überwiegenden Teil meine Mutter übernahm,
finde ich, das Wort „Gefallener“ beschönigt einen meist grausamen, schmerzvollen Tod.
Und dank dieser Erziehung dreht sich mir der Magen um,
wenn ich das Wort „Vaterland“ höre.
Vermutlich verdanke ich es auch dieser Erziehung, dass ich – etwa seit Mitte der Neunziger – bei der „verantwortungsvollen Rolle, die Deutschland in der Welt übernehmen muss“ immer an Willem Zwo denken muss und seinen „Platz an der Sonne“.
Ich bin glückssüchtig. Und vermutlich ein ganz, ganz schwerer Fall.
Schlagwörter: Frieden, Gesellschaft, Krieg
17. 6. 2012 um 18:30 |
Bravo! Was „die verantwortungsvolle Rolle Deutschlands in der Welt“ betrifft – da knabbere ich seit Tagen schon an einem Post – vielleicht stelle ich ihn heute Abend noch online…
17. 6. 2012 um 18:38 |
Na, dann habe ich ja ein wenig Hebammer gespielt oder wie das heißt. 😉
17. 6. 2012 um 18:33 |
Heute schließe ich mich dir da gerne und mit vollem Herzen an! Unter dieser Glückssucht leide auch ich.
Einen sehr schönen Artikel zu diesem Bundespräsidenten fand ich vor ein paar Tagen bei einem anderen Blogger: hier
17. 6. 2012 um 18:39 |
Danke!
Besonders auch für den Link.
17. 6. 2012 um 18:53 |
Ich bin auch glücksüchtig. Ich kann es auch nicht ertragen, das Soldaten fallen, egal welcher Nation, das die deutsche Waffenindustrie sich dumm und dusselig verdient und das wir einen Bundespräsidenten haben, der deutsche Kriegseinsätze und den Krieg zur Normalität erklärt.
17. 6. 2012 um 19:11 |
„Ich soll mich nicht gewöhnen“ – so hat Dorothee Sölle das Tötungsverbot ausgelegt.
So ist es…
17. 6. 2012 um 20:16 |
Das klingt ziemlich unglückselig und allzu abstrakt. Schlimm genug, dass „Fallen“ wieder mit Tod durch Kriegsgemetzel gleichgesetzt wird, aber da auch noch im Stil „Wir sind wieder wer“ drüber zu reden, das ist schlimm!
17. 6. 2012 um 20:30 |
Schlimm ist die Politik, die das so betreibt.
Die Worte folgen der Macht, sozusagen.
17. 6. 2012 um 23:54 |
Mein ältester Bruder ist Berufssoldat und ist (Gott sei Dank) heil aus Afghanistan zurückgekehrt. Wäre er gefallen… Wer weiß, was heute wäre…
Ich bin dann ebenfalls glückssüchtig. Und bin es gern!!
18. 6. 2012 um 11:00 |
Ja, das verstehe ich – dann noch mehr. Da merke ich auch, es gibt vermutlich auch sehr viele glückssüchtige Soldaten.
18. 6. 2012 um 13:04 |
der Bruder meiner Mutter ist mit 20 Jahren in Rußland vermisst,
der andere mit 16 imRhein ertrunken
die Mutter ist mit 48 J. gestorben, sie hat das nicht verkraftet
ich bin auch glückssüchtig
danke für den Beitrag
18. 6. 2012 um 14:00 |
Es ist ein Glück zu leben.
Ob Herr G. deswegen darauf gekommen ist mit der Glückssucht?
18. 6. 2012 um 22:08 |
Ich glaube, unsere Mütter würden/hätten sich gut verstanden.
19. 6. 2012 um 10:23 |
Ganz viele haben solche und ähnliche Erfahrungen gemacht.Aber das rückt allmählich weit weg.
21. 5. 2014 um 21:10 |
wer ist nicht etwas glückssüchtig? Ich auch – nur ich hatte da in der Schweiz etwas mehr Glück – doch gemäss meinen Eltern war auch diese Zeit, auch in der Schweiz, kein Honiglecken. Immer die Angst vor dem grossen Nachbar. Das einfache Volk hatte es auch sehr schwer und mein Vater war die meiste Zeit an der Grenze – auch in der Schweiz fehlten die Väter.
Liebe Grüsse zentao
21. 5. 2014 um 21:32 |
Die Angst als ständige Begleiterin ist übel.
Soll ich die Schweizer Erfahrungen ‚milder‘ nennen? Jedenfalls – so weit ich weiß – ruft in der Schweiz niemand danach, sie solle mehr Verantwortung in der Welt übernehmen.
22. 6. 2016 um 05:29 |
[…] wäre noch viel mehr zu sagen. An meinen Niemals-Onkel habe ich vor vier Jahren […]