In Fulda setzte sich die Oma mit dem Enkel in die Reihe vor mir. Vermutlich hatte sie den kleinen Jason ein paar Tage gehütet, denn sie schien etwas überfordert. Irgendwann machte sich Jason, geschätzt zwischen vier und fünf, selbständig und machte Turnübungen. Eine gute Chance, seine Aggression auszuleben. Er stellte sich zwischen zwei Reihen, stemmte sich hoch und strampelte wild mit den Beinen.
Mir kam es ein bisschen sehr aggressiv vor. Na ja. Irgendwann traf er mein Schienbein. Ich war erbost und äußerte das spontan und eindeutig. Großmutter raunte ihm etwas zu. Held Jason schaute mich entschlossen an, hielt die Lippen zusammen und murmelte „Mschulmemm-m“. Ich ahnte, was das heißen sollte, aber ein bisschen deutlicher könnte er ja doch noch. „Was hast du bitte gesagt?“ „Ömschulmimumm.“ Das akzeptierte ich. Ich musste ja nicht Jasons Logopäde werden.
Dann krabbelte er auf seinen Sitz, ließ sich was aus einem Buch vorlesen, traktierte den auf leise gestellten Gameboy, bekam von Oma etwas zu essen. Nahezu himmlische Ruhe, ich konnte sogar ein wenig dösen.
So verging die Zeit. Ich, wieder munter, sah Jason im Gang. Er spielte mit einem anderen Kind. Wie schön Bahnfahren sein kann!
Leider war der Spielkumpel bald ausgestiegen und Jason begann wieder seine Sportübung. Natürlich hielt er gebührenden Abstand zu mir. Aber nun dachte ich mir: Er ist gelangweilt und ich kriege eh nichts anderes getan, dann ans Werk zum Rollenwechsel! So winkte ich ihn her zu mir und raunte ihm zu: „Hast du Langeweile?“ Er nickte, und das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Sie hielt bis zum Hauptbahnhof Leipzig.
Er setzte sich neben mich, wir tauschten unsere Namen aus, er ließ sich von Oma ein Spielzeugauto reichen und ließ es über Sitze und Lüftungsschlitze sausen. Wir schauten uns ein paar Fotos in der unvermeidlichen „mobil“ an. Schöne Tierbilder gab es da.
Und derlei Späße mehr. Das Vertrauen wuchs und er sagte mir sogar seinen ganzen Namen: „Jason Gebastian Kurz“. Wie gesagt, ich musste ja nicht sein Logopäde werden.
Leipzig kam, die ersehnte Mama war nicht mehr weit, er warf sich sein Rucksäckchen um und schnappte den eingetüteten Roller. Der junge Sachse sagte natürlich (ich bin vielleicht doch ein verhinderter Logopäde) immer „Rollor“ dazu. Wir verabschiedeten uns und ich hatte ab Leipzig den Weg durch die sächsische Provinz vor mir. Aber das ist eine andere Geschichte und soll ein anderes Mal erzählt werden.
12. 4. 2011 um 09:29 |
Eine schöne Geschichte. Und passt so gut in diesen Blog. Ich hätte den Kleinen vermutlich mit viel weniger Verständnis einfach gewürgt.
12. 4. 2011 um 09:40 |
Wäre es bei „Ömschulmimumm“ geblieben, hätte ich es gar nicht erzählt. Erst der zweite Teil gibt den moralischen Drive es hier veröffentlichen zu dürfen, da hast du Recht. 😉
12. 4. 2011 um 09:54 |
Vielen Dank , lieber Jörg, das ist ja schön zu lesen! Ich habe auch schöne Erfahrungen mit dem Zugfahren gemacht (nach Wien und Hamburg) und nette Bekanntschaften geschlossen.
Liebe Grüße, Erika 😉
12. 4. 2011 um 13:54 |
Liebe Erika,
ganz ohne workshop?
Für mich ist es oft auch zwangsgemeinschaft; manche möchte ich nicht näher kennenlernen.
Lieben gruß, Jörg
12. 4. 2011 um 14:18 |
ganz ohne workshop !!! 😉
manche möchte ich auch nicht kennenlernen, da gebe ich Dir allerdings recht……….Wir haben sehr gelacht im Zug, weil alle die Lidl-Tickets nach Wien hatten und der Schaffner fragte, ob wir zum Opernball wollten……. 😆
12. 4. 2011 um 17:22
Mein Ticket war von Gleisnost, was in der feuchtfröhlichen Runde bei einigen Hintergrundgeräuschen Verwunderung auslöste. Aber „Gleis“ ohne „a“, nu!
Herzlich, Jörg
12. 4. 2011 um 10:27 |
Da bin ich jetzt aber auf die Fortsetzung Deiner Reisegeschichten gespannt.
Zugfahren kann manchmal sehr unterhaltsam sein.
12. 4. 2011 um 13:56 |
Sigrid,
herzlich willkommen als kommentatorin auf diesem blog!
Eine fortsetzung steht schon (im kopf wenigstens).
Umgekehrt gesagt: Man sollte fürs zugfahren humor mitbringen, sonst ist es manchmal nicht zum aushalten…
12. 4. 2011 um 12:38 |
Lieber Jörg,
so nett ist das! Fast wie Musik! 🙂
Eine Bahnfahrt, die ist lustig, eine Bahnfahrt, die ist schön… aber es kommt immer drauf an… wer mit dabei ist, so oder so… 😉
Herzliche Grüße, Elisabeth
12. 4. 2011 um 14:03 |
Liebe Elisabeth,
lehrreich ist eine bahnfahrt fast immer. Erheiternd – das ist schon die ausnahme.
Herzlichen gruß, Jörg
12. 4. 2011 um 13:32 |
Eine schöne Geschichte, lieber Jörg. Schön, dass Du noch den Logopäden-Drive gefunden hast:-) Wie oft hilft es uns, uns in andere hineinzuversetzen und auf einmal hat man zusammen richtig Spass. toll! Liebe Grüsse Andrea
12. 4. 2011 um 14:04 |
Liebe Andrea,
ja, da hst du ins schwarze getroffen. Es war auch eine bewusste erinnerung an die eigenen kinder in dem alter…
Herzlichen gruß, Jörg
12. 4. 2011 um 16:36 |
Logopäden-drive?
Ich denke unser Jörg hat ganz einfach pädagogisch gehandelt (παῖς – Knabe, Kind; ἄγειν- führen) und den Knaben zu sinnvoller Beschäftigung geführt – oder (mit der unvermeidlichen „mobil“ – mobilisiert.
🙂
Werner
12. 4. 2011 um 17:18 |
Und ich habe mir selbst auch ein wenig Abwechslung verschafft.
12. 4. 2011 um 14:01 |
Wie gut, dass du so ein guter Mensch bist. Ich wäre vermutlich nicht gewillt gewesen, die Langeweile zu bearbeiten…
12. 4. 2011 um 14:08 |
Danke, ich finde auch, dass ich ein guter mensch bin. 🙂
Ich habe aus der not eine tugend gemacht. Wäre der fernreisende spielpartner bis Leipzig dageblieben, hätte ich nie Jason Gebastians Rollor kennengelernt.
12. 4. 2011 um 15:01 |
Wenn einer eine Reise macht …
🙂
Das ist eine typisch Theomixige Geschichte. *g*
Herzliche Grüße!
H.
12. 4. 2011 um 17:23 |
Ja, vor allem das Bahnreisen…
wie denn anders als typisch? 😉
12. 4. 2011 um 21:41 |
Ich mach mir das jetzt zum Hobby. Also diesen Kommentar. Nachdem ich dich live erlebt habe, kann ich gar nicht anders. Ich hoffe, du siehst mir das nach.
🙂
(Es ist ja auch ein Kompliment.)
13. 4. 2011 um 10:36
Also diese antwort ist typisch paradalis
Ich halte komplimente meistens gut aus. Sehen wir mal…
12. 4. 2011 um 16:25 |
Wie gut kenne ich doch dieses „Mschulmemm-m“ oder „Ömschulmimumm“ oder auch manchmal „Schujung“.
Aber dann denk ich halt auch dran, wie schwer es uns Erwachsenen ja auch manchmal fällt, um Entschuldigung zu bitten.
Zum Rest der Geschichte: wunderbare Erlebnisse entgehen uns wenn, wir uns nicht drauf einlassen, mit anderen Kontakt aufzunehmen!
12. 4. 2011 um 17:25 |
Sieh mal, Heike, eine typisch wernerige antwort: Mit humor, verständnis und erfahrung…
Ja, gut, dass du wieder häufiger komentierst, Werner!
12. 4. 2011 um 17:02 |
Nu bin ich neugierig, ob der Junge Iason oder Dschaissn hieß…
12. 4. 2011 um 17:29 |
Um ehrlich zu sein, weder noch. Aber in dieser Geschichte muss er einfach „Dschejssn“ heißen.
12. 4. 2011 um 17:38 |
Na das hät mich doch sehr gewundert, wenndu den richtigenNAmen hier preisgegeben hättest.
Da du es ja mit dem copyright ernstnimmst, wars ja klar, dass der Datenschcutz dir genauso wichtig ist.
PS: Das wieder häufigere Kommentieren wird noch bisschen auf sich warten lassen. Ab Freitag lege ich eine längere Pause ein. – nicht nur in Deinem blog!
Inzwischen wernerige Grüße 🙂
12. 4. 2011 um 17:42
Ab Freitag mache ich hier ne Pause. schließlich kommt die harte Phase der Fasten-/Passionszeit…
Und du hast mich richtig eingeschätzt: Nur das Gebastian stimmt. Also, lieber Hieronymus Gebastian Kastenbrot, dein Name bleibt geschützt… 🙂
Herzlich und theomixig, Jörg
12. 4. 2011 um 19:33 |
Das ist ne schöne kleine Reisegeschichte. Ich bin auch gespannt auf die Fortsetzung.
Mir sind bei Bahnfahrten oft schon sehr nette Leute begegnet. Wenn die Bahn nicht so unzuverlässig wäre, würde ich öfter mitfahren. Aber was das angeht habe ich sehr schlechte Erfahrungen gemacht.
12. 4. 2011 um 20:01 |
Herzlich willkommen, Chinomso! Ich bin unerschütterlichn in meiner anhänglichkeit zur bahn. Denn wenn ich nicht autofahren muss, ist das eher freizeit für mich.
Die kleinen regionalbahnen sind oft besser als die große DB.
12. 4. 2011 um 20:12 |
So haben wir Beide unsere Bahngeschichten vom Samstag, nicht wahr? 😉
Ich glaube, ich hätte mich auch eher nicht als Unterhalterin für den Dscheis’n geeignet. 😉
13. 4. 2011 um 10:35 |
Die bahn sorgt immer für geschichten… 😉
Das war für mich ein abwägen: dauernd über das bürschlein ärgern oder den stier bei den hörnern packen und mit ihm blödsinn machen…
12. 4. 2011 um 22:26 |
Schöne Geschichte. Irgendwie süß.
Ich fahre auch viel Bahn, hab bisher aber nur, sehr unpädagogisch, Kindern während der Zugfahrt meinen DS inkl. Mario Kart geliehen bzw. im Koop gespielt.
Jason Sebastian (ich übersetze mal) ist aber auch ein … ausgefallener Name.
13. 4. 2011 um 10:38 |
Herzlich willkommen, Bioschokolade. Deinem namen hafte es an, dass du süße geschichten magst… 😉
Solang die geräte ohne geräusch oder ganz leise laufen, finde ich unpädagogsich voll in ordnung. Haben wir auch gemacht. Bahnfahren allein schon diszipliniert, da kann der rest ruhig lottern…
Im wirklichen leben stimmt nur der Sebastian – und der sprachrhythmus auch noch.
13. 4. 2011 um 09:26 |
Beim Bahnfahren,
lieber Jörg-theomix,
werden zusätzlich alle lobenswerten menschlichen Eigenschaften (mit)gefördert… 😉
Herzerwärmend die ‚Jasongeschichte‘ 🙂
Ich hätte noch lange weiterlesen mögen
Hausfrau Hanna
13. 4. 2011 um 10:41 |
Das mit dem fördern trifft aber nur bei gutherzigen menschen zu, also wie bei dir und mir, und natürlich den kommentatoren und den anderen lesern und leserinnen zu…
13. 4. 2011 um 11:57 |
Das war wirklich lieb. Ich hätte bestimmt anders reagiert.
Aber gut, daß es auch gute Menschen gibt;)
13. 4. 2011 um 20:47 |
Willkommen, Quasseltasche!
Ich war erst gar nicht lieb.
Und Kinder können nerven. Lies morgen, da kommt eine Geschichte, in der ich unversöhnlich ein Kind nervig fand.